Vorlagefrage G 1/23 (T 438/19): Klarstellung, wie G 1/92 auszulegen ist

Diese Beschwerde betrifft die Entscheidung der Einspruchsabteilung, mit welcher der Einspruch gegen das europäische Patent EP 2 626 911 zurückgewiesen wurde. Anspruch 1 dieses Patents bestimmt ein Material, das zur Einkapselung einer Solarzelle geeignet ist und bestimmte Polymerbestandteile, physikalische Eigenschaften und einen bestimmten Aluminiumgehalt umfasst. Im vorgelegten Fall befand die Kammer, dass die erfinderische Tätigkeit des Gegenstands von Anspruch 1 davon abhängt, ob das Erzeugnis ENGAGE® 8400 im Sinne von Art. 54 Abs. 2 EPÜ „der Öffentlichkeit zugänglich gemacht wurde“.

Es war unbestritten, dass die Dokumente D1, D2, D5/5a (von denen alle bis auf D5 vor dem frühesten Prioritätstag veröffentlicht wurden) offenbaren , dass das Copolymer ENGAGE® 8400, welches vor dem frühesten Prioritätstag im Handel erhältlich war, alle Eigenschaften des beanspruchten Materials bis auf den Aluminiumgehalt umfasst. Dokument D1 führte ausdrücklich Dokument D18 als ein Dokument auf, das die Zubereitung von ENGAGE® 8400 beschreibt, und Dokument D18 offenbart ein Gehalt von Aluminium, der sich mit dem in Anspruch 1 festgelegten Bereich deckt. 

Doch die Frage war, inwieweit die Verfügbarkeit im Handel auch dazu führte, dass das Erzeugnis „der Öffentlichkeit zugänglich gemacht“ wurde.

1. Von G 1/92 festgelegte allgemeine Grundsätze

Die vorige Entscheidung G 1/92 legte einen Test für die „öffentliche Zugänglichkeit“ fest und stellte fest, dass die chemische Zusammensetzung eines Erzeugnisses Stand der Technik ist, wenn die drei folgenden Kriterien erfüllt sind: 

  • Das Erzeugnis an sich ist der Öffentlichkeit zugänglich und
  • kann vom Fachmann (ungeachtet des Schwierigkeitsgrades der Analyse) analysiert werden und 
  • kann vom Fachmann ohne unzumutbaren Aufwand reproduziert werden, unabhängig davon, ob es besondere Gründe gibt, die Zusammensetzung zu analysieren. 

Das bedeutet allgemein, dass ein Erzeugnis, das auf dem Markt ist, vom Fachmann jedoch nicht „ohne unzumutbaren Aufwand“ reproduziert werden kann, später nach wie vor patentierbar ist (wenn die Patentanmeldung die Einzelheiten beschreibt, wie das Erzeugnis reproduziert werden kann). Wie mit der Entscheidung T 952/92 klargestellt wurde, bedeutet Reproduzierbarkeit „ohne unzumutbaren Aufwand“, dass Reproduzierbarkeit im selben Maße ermöglicht sein muss, in dem eine Patentanmeldung die Erfindung auf eine Art und Weise offenlegen muss, die so deutlich  und vollständig genug ist, um von einem Fachmann ausgeführt werden zu können (Art. 83 EPÜ).

In der Entscheidung T 438/19 erläuterte die Kammer, dass der Leitsatz von G 1/92 sich nur auf die „chemische Zusammensetzung eines Erzeugnisses” bezieht. Doch die Entscheidungsbegründung von G 1/92 legt fest, dass sowohl das Erzeugnis als auch seine Zusammensetzung bzw. interne Struktur zum Stand der Technik werden, wenn es dem Fachmann möglich ist, die Zusammensetzung bzw. innere Struktur des Erzeugnisses zu entdecken und ohne unzumutbaren Aufwand zu reproduzieren.

2. Vorgelegte Fragen und Gründe für die Vorlage

Die vorlegende Kammer hat der Großen Beschwerdekammer die drei folgenden Fragen vorgelegt:

a. Fragen 1 und 2

„1. Ist ein Erzeugnis, das vor dem Einreichungstag einer europäischen Patentanmeldung auf den Markt gebracht wurde, vom Stand der Technik im Sinne des Artikels 54 Abs. 2 EPÜ auszunehmen, nur weil seine Zusammensetzung oder innere Struktur vom Fachmann vor diesem Tag nicht ohne unzumutbaren Aufwand analysiert und reproduziert werden konnte?”

„2. Ist die Antwort auf Frage 1 nein, sind technische Informationen über das betreffende Erzeugnis, die der Öffentlichkeit vor dem Einreichungstag zugänglich gemacht wurden (z. B. durch Veröffentlichung eines technischen Prospekts, Nichtpatent- oder Patentliteratur) Stand der Technik im Sinne des Artikels 54 Abs. 2 EPÜ, unabhängig davon, ob die Zusammensetzung oder innere Struktur des Erzeugnisses vor diesem Tag vom Fachmann ohne unzumutbaren Aufwand analysiert und reproduziert werden konnte?“

Fragen 1 und 2 lassen sich wohl folgendermaßen paraphrasieren: Was genau ist vom Stand der Technik ausgenommen, wenn der in G 1/92 festgelegte Test nicht bestanden wird? Sind das Erzeugnis an sich und bestimmte „technische Informationen“ über das Erzeugnis (hier beispielsweise die physikalischen Eigenschaften etc.) auch vom Stand der Technik ausgenommen? 

Im Hinblick auf G 1/92 stellt die vorlegende Kammer fest, dass sie zu nichteinheitlicher Rechtsprechung zwischen den einzelnen Beschwerdekammern geführt hat. Einige Kammern entschieden, dass – wenn der von G 1/92 festgelegte Test (s. o.) nicht „bestanden“ wird – sowohl das Erzeugnis (hier: ENGAGE® 8400) als auch seine Zusammensetzung/Struktur nicht vom Stand der Technik umfasst sind (z. B. T 946/04 und T 1666/16). Insbesondere merkt die vorlegende Kammer an, dass diese Auslegung durch die Begründung von G 1/92 motiviert sein könnte, wonach sowohl das Erzeugnis als auch seine Zusammensetzung bzw. innere Struktur zum Stand der Technik werden, wenn die von G 1/92 festgelegten Kriterien erfüllt sind. 

Andere Kammern nahmen an, dass nur die Zusammensetzung/Struktur nicht Stand der Technik ist, wenn der Test gemäß G 1/92 nicht „bestanden“ wird (z. B. T 370/02, T 2045/09, T 1833/14 und T 23/11). Die vorlegende Kammer merkt an, dass dies durch den Leitsatz der Entscheidung G 1/92 motiviert sein könnte, die lediglich die chemische Zusammensetzung eines Erzeugnisses betrifft. 

Im vorliegenden Fall hält die vorlegende Kammer diese Unterscheidung für von „entscheidender“ Bedeutung, da im ersten Fall, in dem weder das Erzeugnis ENGAGE® 8400 noch seine Zusammensetzung Stand der Technik wäre, das Erzeugnis ENGAGE® 8400 nicht als Ausgangspunkt für die Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit in Betracht käme. Etwas anderes ergäbe sich, wenn die Schlussfolgerung lediglich wäre, dass seine Zusammensetzung kein Stand der Technik ist, das Erzeugnis an sich aber wie im Handel verfügbar noch Stand der Technik. Denn dann könnte es als Ausgangspunkt dienen, sollten in den Dokumenten aus dem Stand der Technik angegebene technische Informationen über das Erzeugnis, einschließlich der möglichen Anwendungen und Vorteile, es für den Fachmann besonders interessant machen, siehe Entscheidungsbegründung 12.1.

b. Frage 3: Für die Analysierbarkeit und Reproduzierbarkeit erforderlicher Maßstab

„3. Ist die Antwort auf Frage 1 ja oder die Antwort auf Frage 2 nein, welche Kriterien sollen angelegt werden, um zu bestimmen, ob die Zusammensetzung oder innere Struktur des Erzeugnisses ohne unzumutbaren Aufwand im Sinne der Ansicht G 1/92 analysierbar und reproduzierbar war? Ist es insbesondere erforderlich, dass die Zusammensetzung und innere Struktur des Erzeugnisses vollständig analysierbar und identisch reproduzierbar ist?“

Die Kammer stellt außerdem fest, dass die Rechtsprechung im Hinblick auf die für die Analysierbarkeit und Reproduzierbarkeit durch den Fachmann erforderliche Detailtiefe uneinheitlich ist.

Die vorlegende Kammer stellte fest, dass manche Kammern die Entscheidung G 1/92 so auslegten, dass sie eine vollständige Analyse erfordere (Bezug auf T 946/04, T 2068/15, T 877/11), wohingegen andere Kammern sie dahingehend verstanden, dass es ausreiche, einen Fachmann darüber zu informieren, dass das Erzeugnis eine Zusammensetzung aufwies, die vom beanspruchten Gegenstand erfasst ist (T 952/92, T 1452/16, T 2048/12, T 2458/09), siehe Entscheidungsbegründung 14.2.

Die vorlegende Kammer stellt fest, dass die Situation im Hinblick auf das Reproduzierbarkeitskriterium ähnlich ist: Einige Kammern entschieden, dass die genaue Nachbildung einer identischen Kopie bezüglich aller Eigenschaften erforderlich ist, nicht nur derjenigen Eigenschaften, die im betreffenden Anspruch angegeben sind (z. B. T 977/93, T 1833/14). Andere Kammern entschieden, dass die Reproduzierbarkeitsvoraussetzung aus G 1/92 keine vollständige Nachbildung des in Frage stehenden Erzeugnisses erfordere (z. B. T 952/92, T 1540/21 und T 1452/16). Die vorlegende Kammer erläuterte auch die Entscheidung des High Court of England and Wales TAKEDA UK LTD gegen F. HOFFMANN-LA ROCHE AG [2019] EWHC 1911. Darin kam das High Court zu dem Schluss, dass es dem beanspruchten Gegenstand an Neuheit fehle, solang die Informationen, die der Fachmann erhalten könne, indem er das Erzeugnis analysiere, ihn dazu befähige, eine Version des Erzeugnisses zu produzieren, welche den Anspruch vorwegnehme.

3. Anmerkungen

a. Ausschluss vom Stand der Technik

Der Widerspruch, den die vorlegende Kammer aus der Entscheidung G 1/92 ableitet, könnte folgendermaßen aufgelöst werden: Der Leitsatz von G 1/92 gibt im Detail die Voraussetzungen an, die erfüllt sein müssen, damit die Zusammensetzung eines Erzeugnisses Stand der Technik ist. Eine Voraussetzung ist, dass das „Erzeugnis an sich der Öffentlichkeit zugänglich ist“. Somit verwendet die im Leitsatz von G 1/92 definierte Voraussetzung denselben Wortlaut wie Art. 54 Abs. 2 EPÜ, der angibt, dass der Stand der Technik alles umfassen soll, was „der Öffentlichkeit zugänglich gemacht“ wurde. Mit anderen Worten: Eine der Voraussetzungen in G 1/92 scheint zu sein, dass das Erzeugnis an sich Teil des Stands der Technik sein muss.

Die Entscheidungsbegründung 1.4 bezieht sich darauf, dass sowohl das Erzeugnis als auch seine Zusammensetzung bzw. innere Struktur bei einem „auf den Markt gebrachten Erzeugnis“ Stand der Technik werden, wenn „es für den Fachmann möglich ist, die Zusammensetzung bzw. innere Struktur des Erzeugnisses zu entdecken und ohne unzumutbaren Aufwand zu reproduzieren”. Was also im Leitsatz von G 1/92 als Voraussetzung beschrieben wurde („Erzeugnis an sich ist der Öffentlichkeit zugänglich“), scheint nun ein Ergebnis der Analysierbarkeit und Reproduzierbarkeit eines „auf den Markt gebrachten” Erzeugnisses. Doch beide Absätze können miteinander in Einklang gebracht werden, nimmt man an, dass Zweiteres schlicht erläutert, dass – wenn die festgelegten Voraussetzungen erfüllt sind – nicht nur das Erzeugnis, sondern das Erzeugnis und seine Zusammensetzung Stand der Technik werden. 

Doch der vorliegende Fall scheint sich ohnehin etwas von der in den Entscheidungsgründen 1.4 von G 1/92 beschriebenen Situation zu unterscheiden. Letztere ging von einem Erzeugnis aus, das nur auf den Markt gebracht wurde. In dieser Situation „wird sich der Fachmann auf sein allgemeines technisches Wissen berufen müssen, um alle Informationen zu sammeln, die ihn befähigen, das Erzeugnis zuzubereiten“ (G 1/92, Entscheidungsgründe 1.4). Im vorliegenden Fall hingegen war ein Großteil der „technischen Informationen“ über das Erzeugnis aus schriftlichen Dokumenten des Stands der Technik verfügbar. G 1/92 behandelt nicht die Frage, ob technische Informationen über ein Erzeugnis (hier: Eigenschaften wie Dichte, Schmelzindex etc.) (teilweise) trotzdem vom Stand der Technik umfasst sind, selbst wenn die von G 1/92 definierten Voraussetzungen nicht erfüllt sind. Es bleibt interessant, welche Orientierung die Große Beschwerdekammer diesbezüglich bieten wird.

b. Analysierbarkeit und Reproduzierbarkeit

Bezüglich der Analysierbarkeits- und Reproduzierbarkeitskriterien könnte die Große Beschwerdekammer die Entscheidung des High Court genau betrachten. Das High Court analysierte die verschiedenen Ansichten unter den Beschwerdekammern des EPA im Detail und folgt im Wesentlichen der in T 952/92 dargelegten Auslegung, welche die unter den Beschwerdekammern des EPA am weitesten verbreitete Auslegung von G 1/92 zu sein scheint:

„Nach Ansicht der Kammer wird die Neuheit einer beanspruchten Erfindung also durch die Vorbenutzung eines Erzeugnisses, beispielsweise den Verkauf eines Erzeugnisses, zunichte gemacht, wenn eine Analyse eines Erzeugnisses, die sich verfügbarer Analysemethoden bedient, den Fachmann über eine Ausführungsform des Erzeugnisses in Kenntnis setzt, die in den Anspruch des Patents fällt. Die Kammer stimmt daher den Eingaben des Patentinhabers nicht zu, wonach eine vollständige Analyse eines vorbenutzten Erzeugnisses möglich sein muss, um eine genaue Reproduzierung eines solchen Erzeugnisses zu ermöglichen, um die Neuheit des beanspruchten Erzeugnisses zunichtezumachen“ (T 952/92, Begründung 2.3).

Es scheint wahrscheinlich, dass die Große Beschwerdekammer der Begründung des High Court überwiegend folgen wird. Die vorliegende Kammer vertrat bisher eine Ansicht, die eine Minderheitsansicht zu sein scheint, und ersucht die Große Beschwerdekammer mit der Vorlage ex officio um Klarstellung. Beachtenswert ist: Sie bringt sogar vor, dass das Erfordernis der genauen Reproduzierbarkeit „die Verwendung von subjektiven Kriterien“ nach sich ziehen würde, was wiederum „Rechtsunsicherheit“ zur Folge hätte (Begründung 13.2.2). In der Tat wäre es im besten Fall unklar, was genaue Reproduzierbarkeit bedeutet und ob sie von den für das Erzeugnis vom Orignalhersteller definierten Toleranzen abhängen würde. 

Datum


Autor

Johannes Möller
Patentanwalt, European Patent Attorney, Vertreter vor dem EPG, Senior Associate

Johannes Möller

Kathrin Aftahy
Patentingenieurin

Kathrin Aftahy

Georg Anetsberger
Patentanwalt, European Patent Attorney, Vertreter vor dem EPG, Partner

Georg Anetsberger