BARDEHLE PAGENBERG IP News & Discussions: “Patentbestandsverfahren vor dem EPA und dem Bundespatentgericht - Eine faire Balance zwischen den Interessen der Allgemeinheit und des Patentinhabers?“

Im Lauf der letzten Jahrzehnte gewannen Patentpraktiker aus ihren täglichen Erfahrengen den Eindruck, die Möglichkeiten zur erfolgreichen Durchsetzung eines Patents seien erheblich gesunken, da die Aussichten für die Aufrechterhaltung des Patents in Bestandsverfahren zunehmend geringer geworden seien.

BARDEHLE PAGENBERG hat versucht, diese Wahrnehmung auf eine verlässliche Basis zu stellen und die Statistiken des Bundespatentgerichts (BPatG) und des Bundesgerichtshofs (BGH) in Nichtigkeitsverfahren ausgewertet. In dem in den Mitteilungen der Deutschen Patentanwälte veröffentlichten Beitrag "Sind Patente nur Papiertiger?"1, wurde gezeigt, dass das BPatG das Patent in den von 2010 bis 2013 ergangenen Entscheidungen in nahezu 80 % der Fälle ganz oder teilweise vernichtet hat. Die Vernichtungsquote beim BGH lag etwas darunter.

Eine zweite Studie wurde in Zusammenarbeit mit der Technischen Universität München, School of Management, erstellt. Sie befasst sich mit dem "Einspruchsbeschwerdeverfahren vor den Beschwerdekammern des EPA"2 und hat eine etwas andere Zielrichtung: Sie befasst sich mit der Anwendung der im Jahre 2003 geänderten Verfahrensordnung durch die Kammern und sollte ihren Einfluss auf das Ergebnis des Beschwerdeverfahrens untersuchen.

Beide Veröffentlichungen sollten Anlass zu einer öffentlichen Diskussion darüber geben, ob die Praxis in Bestandsverfahren vor dem EPA und den deutschen Gerichten noch einen fairen Ausgleich zwischen den Interessen der Allgemeinheit und denen des Patentinhabers gewährleistet. Als ein Beitrag zu dieser Diskussion, diente die Veranstaltung eines <link de ip-news-wissen ip-eventsde>speziellen IP Events in den Räumen der Kanzlei BARDEHLE PAGENBERG am 17. Dezember 2015, in der die Studien vorgestellt, sowie ihre Ergebnisse und mögliche Folgerungen in einer Podiumsdiskussion erörtert wurden.

Zunächst begrüßte Rechtsanwalt Johannes Heselberger, für BARDEHLE PAGENBERG die Teilnehmer, hauptsächlich aus Anwaltschaft und Industrie. Anschließend führte Prof. Dr. Christoph Ann, Lehrstuhl für Geistiges Eigentum, Technische Universität München, School of Management, in das System der Bestandsverfahren als Einspruchsverfahren vor den Ämtern und Nichtigkeitsverfahren vor den Gerichten ein. Er hob hervor, dass das Finden eines angemessenen Ausgleichs zwischen der Förderung der Innovation und der Erhaltung des Wettbewerbs in Deutschland auch eine verfassungsrechtliche Bedeutung hat, da gewerbliche Schutzrechte der Eigentumsgarantie des Artikels 14 des Grundgesetzes unterlägen. Gleichwohl blieben sie stets der Gefahr der Vernichtung ausgesetzt. Dafür habe der deutsche Gesetzgeber die beiden Wege des Einspruchs und des Nichtigkeitsverfahrens eröffnet. Beide Angriffsmöglichkeiten richteten sich nicht gegen die Entscheidung des Patentamts, sondern gegen das Patent als solches. Daher setze die Vernichtung einen Widerrufsgrund voraus. Sei ein solcher nicht dargetan, müsse das Patent aufrechterhalten werden. Dagegen seien bloße Fehler des Erteilungsverfahrens keine Rechtfertigung für den Widerruf des Patents.

Wenngleich die Erfordernisse der Patentierbarkeit in Erteilungs- und Bestandsverfahren identisch seien, lege doch die hohe Vernichtungsrate beim BPatG nahe, dass Unterschiede in der Rechtsanwendung bestünden. Um einem denkbaren Missbrauch durch wiederholte Nichtigkeitsklagen verschiedener Kläger, aber mit unverändertem Material vorzubeugen, sei daran zu denken, weitere Klagen auf Fälle zu beschränken, in denen neues Material vorgebracht oder offensichtliche Fehler in der Rechtsanwendung gerügt würden.

Peter Hess, Patentanwalt und Managing Partner von BARDEHLE PAGENBRG stellte die Studie über die Widerrufspraxis der deutschen Gerichte vor und merkte an, dass die erfolgreiche  Verteidigung des Patents anscheinend die Ausnahme sei. Die Tendenz zum Widerruf sei, ausgehend von einem hohen Niveau, weiter ansteigend. Schon die eingehende Studie von Liedel3 über die Jahre 1963 bis 1971 habe den hohen Prozentsatz von teilweisen oder vollständigen Nichtigkeitserklärungen von über 70 % ergeben, der damals mit der der als Folge des zweiten Weltkriegs unterbrochenen oder eingeschränkten Sachprüfung erklärt worden war.

Gleichwohl habe die Auswertung der 392 Entscheidungen des BPatG und des BGH aus den Jahren 2010 bis 2013 noch höhere Vernichtungsraten ergeben, nämlich für das BPatG:

Widerruf:  43.62 %
Teilweiser Widderruf:  35.46 %
Klageabweisung:  20.92 %

In dem technischen Gebiet Software/Telekom war die Vernichtung noch häufiger:

Widerruf:  58.04 %
Teilweiser Widerruf:   30.07 %
Klageabweisung: 11.89 %

Vor dem BGH waren die Aussichten für den Patentinhaber etwas besser. So konnte etwa in den Verfahren, die zum Widerruf vor dem BPatG geführt hatten, der Patentinhaber in der Berufung das Ergebnis in 24,75 % der Fälle dadurch verbessern, dass er die Abweisung der Klage erreichte, in weiteren 19,8 % der Fälle wurde das Patent teilweise aufrechterhalten.

Es war kein bedeutsamer Unterschied in den Ergebnissen für vom EPA und vom DPMA erteilte Patente zu verzeichnen. Die Hauptwiderrufsgründe waren fehlende Neuheit oder erfinderische Tätigkeit (rund 75 %), gefolgt von unzulässiger Erweiterung (knapp 11 %). Unzureichende Offenbarung war Widerrufsgrund in 2 % der Fälle. Andere Gründe, unter ihnen fehlende Verteidigung des Patents, machten insgesamt 12 % aus.

Stefan Steinbrener,vormals Vorsitzender einer Beschwerdekammer (Elektrizität) des EPA, Senior Consultant, BARDEHLE PAGENBERG, gab einen Überblick über die Ergebnisse der Studie über Einspruchsbeschwerdeverfahren beim EPA. Die Ergebnisse in den Verfahren erster Instanz sind nicht allzu weit von einer Drittelverteilung für Zurückweisung des Einspruchs, beschränkte Aufrechterhaltung und Widerruf entfernt, allerdings mit einer Tendenz zu vermehrter Aufrechterhaltung in beschränkter Fassung, in 2013 gestiegen auf 38 %. Dagegen hat sich das Bild im Beschwerdeverfahren grundlegend geändert. In dem untersuchten Zeitraum hat sich der Anteil des vollen Widerrufs bei den Endentscheidungen fast verdoppelt, er übersteigt mittlerweile 60 %. Die Studie sollte herausfinden, wie sich die Anwendung der Verspätungsregeln in der im Jahr 2002 geänderten Verfahrensordnung auf Effizienz und Ergebnisse der Verfahren ausgewirkt hat.

Für die Studie wurden drei Jahre ausgewählt: 2013 war das erste Jahr, für das ein kompletter Datenbestand in der Entscheidungsdatenbank des EPA vorhanden war. 2004, d. h. 9 Jahre zuvor, war das erste volle Jahr, in dem die geänderte VerfO anwendbar war. Und 1995 lag wiederum denselben zeitlichen Abstand von 9 Jahre zurück. Nach dem Zufallsprinzip wurden für jedes Kalenderjahr 150 Entscheidungen in Einspruchsverfahren ausgewählt. Nicht ausgewählt wurden Entscheidungen in Französisch aus Sprachgründen und Entscheidungen ohne Sachprüfung wegen mangelnder Relevanz für den Gegenstand der Untersuchung.

Für jede Entscheidung wurden bibliographische und weitere Daten erfasst, unter anderen: Das Ergebnis des Verfahrens in erster Instanz und im Beschwerdeverfahren, die Seitenzahl für die Entscheidungsgründe (ohne Sachverhalt und Anträge), deren Anteil, der sich mit formellen Aspekten und Verfahrensfragen befasst, die Zahl der Hilfsanträge, die formell oder in der Sache geprüft wurden, neuer Vortrag (Beweismittel oder Anträge) und seine Zulassung oder Nicht-Zulassung, je nach Verfahrensstand.

Völlig unabhängig vom Ausgang des Verfahrens vor der Einspruchsabteilung haben sich die Chancen für den Patentinhaber in allen Konstellationen erheblich verschlechtert. So wurde der Widerruf durch die Einspruchsabteilung 1995 nur in 34 % der Fälle bestätigt, 2013 dagegen in 62 % der Fälle. Umgekehrt wurde die Zurückweisung des Einspruchs 1995 noch in 61 % der Fälle bestätigt, 2013 nur mehr in 53 % der Fälle. Die Aufrechterhaltung in beschränkter Fassung wurde 1995 ersetzt durch vollständigen Widerruf in 27 % der Fälle, 2013 in 47 % der Fälle.

Die Bedeutung von formellen und Verfahrensfragen hat drastisch zugenommen. Während 1995 der Widerruf nur in 7 % der Fälle ausschließlich auf formelle Gründe gestützt war, stieg dieser Anteil 2013 auf 25%. Umgekehrt fiel der Anteil der Fälle, in denen nur materielle Widerrufsgründe erheblich waren, 1995 von 88 % auf 51 % im Jahr 2013. Formelle Widerrufsgründe können unterschieden werden in unzulässige Erweiterung – hier gab es einen Anstieg um den Faktor 11 von 1995 bis 2013 – und andere formelle Gründe, in erster Linie verspätetes Vorbringen, was 1995 noch kaum eine Rolle spielte; von 2004 bis 2013 stieg die Zahl der Entscheidungen, in denen dies der Fall war, um den Faktor 3.6.

Die Länge der Entscheidungsgründe (ohne Sachverhalt und Anträge) stieg 1995 von 8,3 Seiten auf 9,6 Seiten im Jahr 2013. Verspätetes Vorbringen wurde 1995 durchschnittlich auf 0,2 Seiten behandelt, 2013 dagegen auf 1,2 Seiten – eine Zunahme um den Faktor 6. Gleichzeitig stieg der Anteil der Entscheidungen, in denen Fragen der Verspätung erörtert wurden von 15 % auf 51 %.

Der Anteil der Fälle, in denen Hilfsanträge gestellt wurden, stieg 1995 nur leicht von 69 % auf 76 % im Jahr 2013, dagegen nahm die Zahl der in den Gründen behandelten Hilfsanträge um 150 % zu.

Die Aussichten für die Zulassung neuen Vorbringens sinken mit dem Fortschreiten des Beschwerdeverfahrens. Dies gilt allerdings in geringerem Umfang für Angriffsmittel als für Verteidigungsmittel, mit anderen Worten der Einsprechende wird bevorzugt behandelt. 2013 gab es in einer nicht unerheblichen Zahl von Fällen eine neue Tendenz, nämlich dass neue Anträge nicht zugelassen wurden, selbst wenn diese bereits mit der Beschwerdebegründung eingereicht wurden. Im gleichen Jahr nutzten die Kammern ihr Ermessen, neues Vorbringen nicht zuzulassen, das bereits in erster Instanz hätte vorgebracht werden können oder dort zurück gewiesen worden ist (7 % bei Anträgen, 3,5 % bei anderem Vorbringen); dies ist eine Erscheinung, die in den beiden früheren Jahren überhaupt nicht zu verzeichnen war.

Die Ergebnisse der Studie bestätigen den unter den Benutzern des europäischen Patentsystems weit verbreiteten Eindruck, dass sich die Philosophie des Einspruchsbeschwerdeverfahrens geändert hat. Während zuvor materielle Argumente ganz im Vordergrund standen, lässt sich dies für die jüngere Praxis nicht mehr in gleichem Maße sagen. Vielmehr haben sich die Auseinandersetzungen verlagert und formeller Streit hat materiellen ersetzt, allerdings ohne insgesamt die Last des Verfahrens für die Beteiligten und die Kammern gemildert zu haben.

Nach der Vorstellung der Studien folgte eine Podiumsdiskussion mit Prof. Ann, Uwe Scharen, früherer Vorsitzender Richter des Patentsenats des BGH, Dr. Hans Wegner, Patentanwalt, BARDEHLE PAGENBERG, Rudolf Teschemacher, früherer Vorsitzender einer Beschwerdekammer (Chemie) des EPA, Senior Consultant, BARDEHLE PAGENBERG und Johannes Heselberger, der die Diskussion leitete.

Die Erörterungen begannen mit der Frage, ob es angesichts der hohen Zahl von Nichtigerklärungen zu viele erteilte Patente gebe, die zu widerrufen seien oder ob zu viele wertvolle Patente widerrufen würden. Angesichts der verfügbaren Daten wurde darauf hingewiesen, dass es beim BPatG deutliche Unterschiede unter den verschiedenen Senaten gebe. Das mag an den verschiedenen technischen Gebieten liegen. Es besteht allerdings auch der Eindruck, dass es auf die beteiligten Richter und die Art der Verfahrensführung ankommt. Insbesondere soll es eine Rolle spielen, in welchem Maße der rechtskundige Vorsitzende Richter bereit ist, sich in die technischen Fragen zu vertiefen und seinen eigenen Beitrag zur Rechtsfrage der erfinderischen Tätigkeit einzubringen und nicht die entscheidende Rolle dem Berichterstatter zu überlassen.

Es bestand darin Übereinstimmung, dass es in einem Gericht mit gemischter Besetzung keine Trennung zwischen Rechtsfragen und technischen Fragen geben kann, denn das Gericht hat als Kollegialorgan seine Entscheidung soweit irgend möglich auf eine gemeinsame breite Überzeugung zu stützen. Gleichwohl ist es eine Frage der Persönlichkeit, in welchem Maß ein rechtskundiger Richter bereit ist, zur Erörterung der technischen Fragen beizutragen und umgekehrt ein technisch qualifizierter Richter zu den Rechtsfragen. Solchen Aspekten sollten in Verfahren der Personalauswahl und Bewertung besondere Beachtung geschenkt werden.

Im Hinblick auf die Frage, ob die zunehmend strikte Anwendung der VerfO durch die Beschwerdekammern des EPA das Ziel erreicht haben, das Verfahren effizienter zu gestalten, bestätigen die erhobenen Daten den aus persönlichen Erfahrungen gewonnenen Eindruck, dass sich die Belastung für die Parteien und die Kammern von materiellen zu Verfahrens- und Formfragen verlagert hat, ohne dass dadurch das Verfahren gestrafft wurde.

Ein Ungleichgewicht hat sich durch einen Trend ergeben, spätes Vorbringen des Patentinhabers eher zurückzuweisen, als solches des Einsprechenden. Oft zögern die Kammern nicht, den Grundsatz der Amtsermittlung anzuwenden, wenn späte Angriffsmittel vorgebracht werden oder wenn die Kammer selbst einen späten Einwand erhebt, vielleicht zum ersten Mal in der mündlichen Verhandlung. Auf der anderen Seite vermissen Patentinhaber oft die Gelegenheit zu einer angemessenen und vollen Verteidigung. Ein spontaner Versuch, einen späten Einwand auszuräumen, kann sogar auf einer prima facie Grundlage, also nach nur kursorischer Prüfung, zurückgewiesen werden, wie die Große Beschwerdekammer im Überprüfungsverfahren bestätigt hat. Dieses Ungleichgewicht ist umso bedeutsamer, als dass der Patentinhaber sein Patent endgültig verliert, wenn er unterliegt, während der Einsprechende, dessen späte Einwendungen nicht zugelassen werden, diese noch im nationalen Nichtigkeitsverfahren einsetzen kann, um das Patent aus der Welt zu schaffen. In diesem Zusammenhang passt das von einigen Kammern postulierte Prinzip der Neutralität der Kammern nicht in den rechtlichen Rahmen, wenn eine Kammer durch ein Vorgehen von Amts wegen dem Einsprechenden „helfen“ kann, ohne dem Patentinhaber adäquate Gelegenheit zur Verteidigung zu geben.

Zur Praxis in Deutschland wurde festgestellt, die Möglichkeit der Präklusion im Berufungsverfahren solle die Parteien dazu veranlassen, ihr gesamtes Vorbringen schon in erster Instanz zu präsentieren. Das lasse jedoch den Hauptzweck des Berufungsverfahrens unberührt, zu einer in der Sache befriedigenden Entscheidung zu kommen. Dieser Zweck schränke die Zurückweisung späten erheblichen Vorbringens ein, wobei es sich um ein neuheitsschädliches Dokument in letzter Minute, aber auch um eine gewährbare Anspruchsfassung zum gleichen Zeitpunkt handeln könne. Beim EPA erreicht manche Entscheidung der Beschwerdekammern diese Messlatte nicht, etwa wenn spätes Vorbringen zurückgewiesen wird, ohne dass seine sachliche Relevanz oder die Frage der Verfahrensverzögerung erörtert wird.

Eine Reihe möglicher Gründe für die hohen Widerrufsquoten wurde erörtert: Ein Absinken des Niveaus der erfinderischen Tätigkeit im Erteilungsverfahren im Verlauf der letzten Jahrzehnte, das Vorbringen von weiterem und relevanterem Stand der Technik und Unterschiede in der Rechtsanwendung. Dazu kommt eine zunehmende gesellschaftliche Kritik des Patentsystems mit Schlagworten wie „keine Patente auf Leben“, „keine Software Patente“ oder „Patentdickichte“. In einer Rede im Jahr 2008 prägte die damalige Präsidentin des EPA das Wort vom „global patent warming“, als sie sich mit den steigenden Anmeldezahlen befasste. Derartige allgemeine Kritik und solche Schlagworte mögen nicht ohne Wirkung auf die Richter bleiben, die den Wert erteilter Patente einzuschätzen haben.

Hinsichtlich des weiteren Stands der Technik ist ein Unterschied zu machen zwischen Entgegenhaltungen, die dem Recherchenprüfer nicht zugänglich sind, wie die sprichwörtliche handgeschriebene, in einer entfernten Bibliothek verborgene Doktorarbeit oder einer offenkundigen Vorbenutzung einerseits und in der Recherchendokumentation enthaltenen Entgegenhaltungen andererseits. Es soll überraschend oft vorkommen, dass in Bestandsverfahren Stand der Technik entgegengehalten wird, der in der Recherche hätte gefunden werden können und sollen. Dies veranlasste die Bemerkung, in einer solchen Situation sei es nur recht und billig, wenn das Patentamt dem Patentinhaber seine Gebühren erstatte. Andererseits können Anmelder keine perfekte Recherche erwarten, die der Prüfer in weniger als einem Tag erstellen muss, während der Kläger in einem wichtigen Nichtigkeitsverfahren keine Kosten für die Recherche scheuen wird, um seiner Klage zum Erfolg zu verhelfen.

Was die Interessen der Betroffenen angeht, wurden die Widerrufsquoten unterschiedlich bewertet. Dem Patentinhaber ist an Rechtssicherheit gelegen. Er hat nicht nur in seine technische Entwicklung und in die Kosten der Anmeldung investiert. Seine Bemühungen um die Vermarktung der Erfindung mögen noch höhere Kosten verursachen und die patentierte Erfindung stellt einen Vermögenswert dar, der lizenziert und auch auf andere Weise zum Gegenstand von Technologietransfer werden kann. Die Erteilung des Patents schafft einen wirtschaftlichen Wert und die rückwirkende Vernichtung des Patents enttäuscht auf diesen Wert gestützte Erwartungen.

Allerdings beschränkt das Patent die Handlungsfreiheit der Wettbewerber auf dem Markt. Sie waren am Erteilungsverfahren nicht beteiligt, daher steht ihnen das Recht auf eine volle Überprüfung zu, ob die Voraussetzungen der Patentierbarkeit erfüllt sind. Ein Ungleichgewicht zwischen dem Patentinhaber und seinen vom Patent gestörten Wettbewerber besteht insofern, als die Wettbewerber das Patent mehrfach angreifen können, während der Patentinhaber sein Recht endgültig verliert, wenn nur einer dieser Angriffe erfolgreich ist. Hinzu kommt, dass die Gefahr einer auf rückschauender Betrachtung beruhenden Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit umso größer wird, je später das Urteil über die erfinderische Tätigkeit zu fällen ist.

Es wurde vorgeschlagen, die Hürde für eine Vernichtung anzuheben, wenn frühere Angriffe erfolglos waren und zudem spätere Angriffe auf neue materielle Gründe zu beschränken, die in früheren Verfahren noch nicht behandelt wurden, wie dies in US post-grant review Verfahren der Fall ist. Es sollte selbstverständlich sein, dass ein Patent nur aus guten Gründen vernichtet wird. Daher sind Formulierungen wie „Die Kombination der Dokumente 1, 2 und 3 lag im Vermögen des Durchschnittsfachmanns“ ohne Aussagkraft. Das Erfordernis der erfinderischen Tätigkeit sollte auch in einer strukturierten Weise geprüft werden, die vorhersehbare und überprüfbare Ergebnisse liefert.

In dieser Hinsicht wurde begrüßt, dass sich der BGH dem „could-would approach“ des EPA angenähert hat. Sachverhalte, in denen die Kombination von Entgegenhaltungen allein aufgrund des allgemeinen Fachwissens als nahliegend angesehen wird, ohne dass dafür ein Anhaltspunkt im Stand der Technik gegeben ist, sollten seltene Ausnahmen bleiben. Noch weiter reichende Vorschläge betrafen die Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit auf der Grundlage stärkerer objektiver Kriterien wie der „secondary considerations“ oder der Anwendung eines formalisierten „Multi-Item-Indexsystems”.4

Aus rechtlicher Sicht sind die Voraussetzungen der Patentierbarkeit für Erteilungs- und Bestandsverfahren dieselben. Daher sollte es grundsätzlich nicht vorkommen, dass ein Patent wegen eines Stands der Technik widerrufen wird, der schon im Erteilungsverfahren berücksichtigt wurde. Allerdings mag die Herangehensweise bei der Anwendung der Kriterien der Patentierbarkeit im Erteilungsverfahren von der im Bestandsverfahren abweichen. Der Prüfer kann das Patent im Zweifelsfall erteilen. Zum einen hat er stichhaltige Gründe für die Zurückweisung der Anmeldung anzugeben, zum anderen mag er die Möglichkeit des Einspruchs berücksichtigen, sollten sich seine Zweifel als berechtigt erweisen. Im zweiseitigen Verfahren ist eine andere Situation gegeben. Die Einspruchsabteilung oder das Gericht kann mit Hilfe des Gegners des Patentinhabers klären, ob die zuvor bestehenden Zweifel berechtigt waren, wodurch sich das Bild ändern kann.

Während die Zahlen für Widerruf und Aufrechterhaltung wie erteilt eine klare Aussage über Erfolg oder Misserfolg liefern, ist dies bei den Zahlen über beschränkte Aufrechterhaltung nicht der Fall. Es ist nicht nur eine Frage der Psychologie, ob man dasselbe Glas Wasser als halbvoll oder halbleer bezeichnet. Vielmehr geben Statistiken keinen Anhaltspunkt dafür, welchen Wert das Patent nach einem Teilwiderruf (oder einer teilweisen Aufrechterhaltung) noch hat. Jedenfalls kann man Widerruf und Teilwiderruf nicht einfach zu 80 % Misserfolg zusammenzählen. Einen Grund für den häufigen Teilwiderruf kann man darin sehen, dass Bestandsverfahren stärker auf die Breite der Ansprüche konzentriert sind, als das Erteilungsverfahren, gerade wenn sie parallel zu Verletzungsverfahren stattfinden. Richter in spezialisierten Spruchkörpern sind in diesem Geschäft auch erfahrener als Prüfer.

Im Ergebnis gab die Diskussion die bei den Teilnehmern bestehende  Besorgnis über die hohen Vernichtungsquoten wieder. Für ein gutes Funktionieren des Patentsystems erscheint es notwendig, dass Patente nicht leichten Herzens widerrufen werden und dass der Anmelder nicht nur eine realistische Chance auf Erteilung eines Patents haben muss; er muss später auch eine angemessene Chance auf eine erfolgreiche Durchsetzung des Patents haben. Andernfalls schwindet der Anreiz für die frühzeitige Offenbarung neuen technischen Wissens. Eine solche Entwicklung läge nicht im öffentlichen Interesse.

Wenngleich die Beschleunigung des Verfahrens eine allgemein zu verzeichnende Tendenz in vielen Verfahrensordnungen ist, so scheint doch die jüngere Praxis der Beschwerdekammern mehr Verfahrenshärten für den Patentinhaber mit sich zu bringen, als Verfahren vor nationalen Gerichten. Dies muss doch überraschen, wenn man berücksichtigt, dass das europäische Patentsystem hohe Überschüsse erwirtschaftet, während die nationalen Haushalte für Gerichte traditionsgemäß nur eine Ausstattung erlaubt, die nahezu ärmlich zu nennen ist. Die gegenwärtige Unterbesetzung bei den Beschwerdekammern verspricht kaum eine Liberalisierung der vorherrschenden strikten Praxis. Der fortdauernde Ruf des Präsidenten des EPA nach einer Erhöhung der Effizienz der Kammern, begleitet von seiner Forderung nach einer höheren Kostendeckung im Beschwerdeverfahren, mag eher das Gegenteil bedeuten.


1 Peter Hess, Tilman Müller-Stoy, Martin Wintermeier, Sind Patente nur Papiertiger?, Mitteilungen der Deutschen Patentanwälte 2014, 439.

2 Georg Anetsberger, Hans Wegner, Christoph Ann, Karim El Barbari, Tobias Hormann, Increasing Formalism in Appeal Proceedings – The EPO Boards of Appeal Headed to a Mere Reviewing Instance, epi Information 2/2015, 63.

3 Liedel, Das deutsche Patentnichtigkeitsverfahren, Köln 1979.

4 See Dolder/Ann/Buser, Beurteilung der Erfindungshöhe mit Hilfe eines additiven multi-item Indexes, GRUR 2011, 177. 

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Autor

Peter Hess †
Patentanwalt, European Patent Attorney, Managing Partner

Peter Hess †