Entscheidung J 01/24 der Juristischen Beschwerdekammer des Europäischen Patentamts vom 16. April 2024
Wie bereits die J 28/03 befasst sich J 01/24 mit der Frage, ob eine europäische Patentanmeldung noch anhängig ist, nachdem eine Beschwerde gegen die Entscheidung über die Erteilung des betreffenden Patents eingelegt wurde, obwohl der Hinweis auf die Erteilung bereits veröffentlicht wurde. Mit ihrer Entscheidung J 01/24 vom 16. April 2024 wich die Juristische Beschwerdekammer des Europäischen Patentamts (EPA) vom in J 28/03 aufgestellten Grundsatz ab, dass die Antwort auf die Frage, ob die Stammanmeldung noch „anhängig“ ist, vom Ausgang des Beschwerdeverfahrens abhängt. Stattdessen wurde in der Entscheidung J 01/24 geprüft, ob sich aus der Patentanmeldung noch materielle Rechte (beispielsweise ein einstweiliger Schutz) ergeben. Dies war der Fall, da nach der gängigen Praxis des EPA die Beschwerde des Anmelders gegen die Erteilung eines Patents als wirksam eingelegt behandelt wurde, mit der Folge, dass der Hinweis auf die Erteilung in einem solchen Fall gelöscht wurde. Die Entscheidung J 01/24 bietet daher Anmeldern, die es versäumt haben, eine europäische Teilanmeldung vor der Bekanntmachung des Hinweises auf Erteilung der Stammanmeldung einzureichen, einen Ausweg, um dieses Versäumnis zu beheben, nämlich durch Einlegen einer Beschwerde gegen die Erteilungsentscheidung und das anschließende Einreichen der Teilanmeldung.
1. Sachverhalt und Anträge
Die Entscheidung J 01/24 betrifft die Zulässigkeit der Einreichung einer europäischen Teilanmeldung nach der (ersten) Bekanntmachung des Hinweises auf die Erteilung der früheren Anmeldung.
Die Beschwerde richtet sich gegen die Zwischenentscheidung der Eingangsstelle vom 14. September 2023, laut der die spätere Anmeldung nicht als Teilanmeldung der früheren Anmeldung behandelt wird. Die Eingangsstelle ließ eine gesonderte Beschwerde gegen diese Entscheidung gemäß Art. 106 Abs. 2 EPÜ zu.
Der Erteilungsbeschluss für die frühere Anmeldung erging am 18. Februar 2021, wobei als ursprüngliches Datum für die Bekanntmachung des Hinweises auf Erteilung der 17. März 2021 festgelegt wurde.
Am 16. April 2021 reichte die Anmelderin eine Beschwerde gegen den Erteilungsbeschluss zur früheren Anmeldung ein und entrichtete die Beschwerdegebühr.
Durch eine Kurzmitteilung vom 6. Mai 2021 setzte die für die frühere Anmeldung zuständige Prüfungsabteilung die Anmelderin davon in Kenntnis, dass der Erteilungsbeschluss seine Wirkung beibehalte und weiterhin gültig sei, aber dass das Datum der Bekanntmachung des Hinweises auf Erteilung gestrichen worden sei.
Am 24. Mai 2021 wurde der Antrag auf Erteilung einer Teilanmeldung auf Grundlage der früheren Anmeldung eingereicht.
Am 18. Juni 2021 reichte die Anmelderin eine Beschwerdebegründung ein.
Auf eine Sachstandsanfrage hin teilte die Eingangsstelle der Anmelderin in einer Kurzmitteilung mit, dass der Status der Teilanmeldung vom Ausgang der Beschwerde zur früheren Anmeldung abhänge.
Am 7. April 2022 zog die Anmelderin ihre Beschwerde gegen die Entscheidung über die Erteilung der früheren Anmeldung zurück.
Am 18. Mai 2022 stellte die Eingangsstelle einen Rechtsverlust nach Regel 112 (1) EPÜ fest. Die Eingangsstelle befand, dass die spätere Anmeldung nicht als Teilanmeldung behandelt werden könne. Hinsichtlich der Entscheidung der Juristischen Beschwerdekammer in der Sache J 28/03 stellte die Eingangsstelle fest, dass die Beschwerde gegen die Erteilungsentscheidung hinsichtlich der Stammanmeldung zurückgezogen worden war. Somit sei die Entscheidung über die Erteilung des Stammpatents bestätigt worden. Eine Teilanmeldung hätte daher nur bis zum Tag vor der Bekanntmachung des Hinweises auf die Erteilung (16. März 2021) wirksam eingereicht werden können.
Am 2. Juni 2022 teilte die Prüfungsabteilung der Anmelderin das neue Bekanntmachungsdatum des Hinweises auf Erteilung der früheren Anmeldung mit, nämlich den 15. Juni 2022. In dieser Mitteilung wurde darauf hingewiesen, dass die ursprüngliche Entscheidung über die Erteilung vom 18. Februar 2021 weiterhin wirksam sei und ihre Gültigkeit behalte.
Am 15. Juli 2022 beantragte die Anmelderin eine Entscheidung gemäß Regel 112 (1) EPÜ und trug vor, dass die spätere Anmeldung wirksam als Teilanmeldung eingereicht worden sei.
In ihrer Zwischenentscheidung vom 14. September 2023 entschied die Eingangsstelle, dass die spätere Anmeldung nicht als Teilanmeldung der früheren Anmeldung behandelt wird, und ließ eine gesonderte Beschwerde gegen diese Entscheidung zu.
Am 14. November 2023 reichte die Anmelderin eine Beschwerde dagegen ein und entrichtete die Beschwerdegebühr.
a. Die Argumente der angefochtenen Entscheidung der Eingangsstelle:
Die Eingangsstelle vertrat die Auffassung, dass die Grundsätze der Entscheidung J 28/03 auf den vorliegenden Fall anwendbar seien. In der Entscheidung J 28/03 unterschied die Juristische Beschwerdekammer zwischen Beschwerden gegen die Zurückweisung einer europäischen Patentanmeldung und Beschwerden gegen einen Erteilungsbeschluss eines europäischen Patents. Im Hinblick auf erstere gebe es eine „Gewähr“, dass eine Teilanmeldung selbst dann Bestand haben könne, wenn die Beschwerde aus welchen Gründen auch immer zurückgewiesen werde (Entscheidungsbegründung 15). Bei letzteren sei dies anders, da hier bereits ein Patent erteilt worden sei, mit der Folge, dass jede weitere Handlung vollständig vom Ausgang des Beschwerdeverfahrens abhänge (Entscheidungsbegründung 16). Darüber hinaus erlaube es die von einer Beschwerde ausgehende aufschiebende Wirkung nicht, eine bereits ergangene Entscheidung zu ignorieren. Sie hemme lediglich den Ablauf der normalerweise daran anschließenden Schritte, bis die endgültige Entscheidung der letzten Instanz ergangen ist (Entscheidungsbegründung 18).
b. Die Beschwerde gegen die Entscheidung der Eingangsstelle
In der am 15. Januar 2024 eingereichten Beschwerdebegründung machte die Anmelderin geltend, dass die in J 28/03 aufgestellten Grundsätze auf den vorliegenden Fall nicht anwendbar seien, da sie nicht mit der späteren Entscheidung G 01/09 übereinstimmten. Im vorliegenden Fall sei das ursprüngliche Datum des Hinweises auf Erteilung gestrichen worden, die Stammanmeldung bleibe daher anhängig. Bei der Entscheidung J 28/03 sei die Lage anders gewesen, da es keine Streichung des Hinweises auf Erteilung für die frühere Anmeldung gab. Daher seien die Grundsätze dieser Entscheidung nicht auf den vorliegenden Fall anzuwenden, vielmehr seien die in G 01/09 dargelegten Grundsätze anwendbar.
Mit Schreiben vom 15. Juli 2022 argumentierte die Anmelderin, dass andere Teilanmeldungen unter denselben Umständen wie den vorliegenden eingereicht und vom EPA zugelassen worden seien, sodass die Anmelderin berechtigterweise erwarten könne, dass auch im vorliegenden Fall die Teilanmeldung wirksam eingereicht werden könne.
Die Anmelderin beantragte, die angefochtene Entscheidung aufzuheben und die Teilanmeldung als europäische Teilanmeldung zu behandeln. Für den Fall der Abweisung dieses Antrags wurde eine mündliche Verhandlung beantragt.
2. Das Beschwerdeverfahren (J 01/24) und die Entscheidungsbegründung
Die Juristische Beschwerdekammer erachtete die Beschwerde (gegen die Entscheidung der Eingangsstelle) für zulässig, insbesondere da in der angefochtenen Entscheidung eine gesonderte Beschwerde gemäß Art. 106 Abs. 2 EPÜ zugelassen wurde.
Wann ist eine Anmeldung anhängig?
Die Juristische Beschwerdekammer prüfte, wann eine frühere Anmeldung „anhängig“ ist, wie dies Regel 36 (1) EPÜ für das Einreichen einer Teilanmeldung voraussetzt.
Das EPÜ enthält dazu keine Definition, sodass die Juristische Beschwerdekammer auf den in der Entscheidung G 01/09 der Großen Beschwerdekammer festgehaltenen Grundsatz verwies: Eine „anhängige (frühere) europäische Patentanmeldung“ ist eine Patentanmeldung in einem Status, in dem die materiellen Rechte, die sich nach dem EPÜ daraus ergeben, (noch) bestehen (G 01/09, Entscheidungsbegründung 3.2.4.). Zu den materiellen Rechten einer Anmelderin gehört der einstweilige Schutz gemäß Art. 67 EPÜ.
Darüber hinaus betonte die Juristische Beschwerdekammer, dass die Rückwirkung einer rechtskräftigen Zurückweisungsentscheidung auf die dem Anmelder gewährten Rechte nichts daran ändert, dass die Anmeldung so lange anhängig ist, bis diese Entscheidung Rechtskraft erlangt hat. Vor dem Hintergrund, dass im vorliegenden Fall (anders als in dem der Entscheidung J 28/03 zugrundeliegenden Fall) die Streichung des Datums des Hinweises auf Erteilung das Wirksamwerden der Patenterteilung verhinderte, kam die Juristische Beschwerdekammer daher zum Schluss, dass sich materielle Rechte (z. B. einstweiliger Schutz) weiterhin aus der früheren Patentanmeldung ergaben, diese daher noch anhängig war.
Die Juristische Beschwerdekammer schloss sich insoweit nicht dem Standpunkt der Kammer in J 28/03 an, dass „eine Beschwerde gegen eine Entscheidung über die Erteilung eines Patents, die die Bekanntmachung der Erteilung des Patents zur Folge hat, nach Artikel 107 Satz 1 EPÜ unzulässig ist und mithin nicht die Möglichkeit eröffnen sollte, eine Teilanmeldung auch noch während des Beschwerdeverfahrens einzureichen. Dies kann auch als Vorkehrung gegen missbräuchliche Beschwerden verstanden werden, die eingelegt werden, um künstlich anhängige ‚Stammanmeldungen‘ zu schaffen.“
Laut J 01/24 entspricht es der gängigen Praxis des EPA, dass Beschwerden gegen die Erteilung eines Patents als wirksam eingelegte Beschwerden behandelt werden, mit der Folge, dass in einem solchen Fall das Datum des Hinweises auf die Erteilung gestrichen wird. Wird die Beschwerde später zurückgenommen oder scheitert sie, wird ein neues Datum für die Bekanntmachung des Hinweises auf die Erteilung festgelegt. In der Entscheidung J 01/24 wird dies als Erfordernis für die Wirksamkeit der Patenterteilung angesehen (Art. 64 Abs. (1) EPÜ).
In J 01/24 wird außerdem betont, dass das EPÜ keine Bestimmung enthält, welche die Beschwerde des Anmelders gegen die Erteilung eines Patents einschränkt, und dass „eine solche Beschwerde daher nicht als eindeutig unzulässig angesehen werden kann“. Eine solche Beschwerde steht im Gegensatz zu einer „eindeutig unzulässigen“ Beschwerde, die keine aufschiebende Wirkung haben sollte, wie etwa eine Beschwerde ohne Grundlage im EPÜ, beispielsweise eine von einem Dritten eingelegte Beschwerde (vgl. Entscheidungsbegründung, 10.5).
Eine „anhängige Anmeldung“ erfordert insbesondere kein „anhängiges Erteilungsverfahren“, vgl. auch G 01/09, Entscheidungsbegründung 4.2.5. Dies entspricht auch dem Grundsatz, dass im Falle einer Aussetzung des Verfahrens nach Regel 14 (1) EPÜ kein Erteilungsverfahren anhängig ist, obwohl die Anmeldung noch anhängig ist.
Beschluss
Folglich ordnete die Juristische Beschwerdekammer an, dass die angefochtene Entscheidung aufgehoben und die Sache zur weiteren Bearbeitung an die Eingangsstelle zurückverwiesen wird, mit der Maßgabe, die spätere Anmeldung als Teilanmeldung der früheren Anmeldung zu behandeln.
3. Kommentar
Die Grundsatzentscheidung G 01/09 schaffte bereits insofern Klarheit für Anmelder, als eine Teilanmeldung eingereicht werden kann, solange die Entscheidung über die Zurückweisung der Anmeldung nicht rechtskräftig geworden ist, d. h. innerhalb der Beschwerdefrist.
Die vorliegende Entscheidung J 01/24 schafft nun Klarheit für den anders gelagerten Fall, dass der Hinweis auf die Erteilung einer Anmeldung bekanntgemacht wurde und der Anmelder daraufhin innerhalb der Beschwerdefrist eine Beschwerde gegen die Erteilungsentscheidung einlegt. In einem solchen Fall kann eine Teilanmeldung immer noch eingereicht werden, da nach der gängigen Praxis des EPA der Hinweis auf die Erteilung gelöscht wird und die Anmeldung somit weiterhin anhängig ist.
Die Entscheidung ändert nichts an der Tatsache, dass die überwiegende Mehrheit solcher Beschwerden scheitern wird, da die Entscheidung über die Erteilung (in der Regel) vollständig mit der Mitteilung über die beabsichtigte Patenterteilung übereinstimmt, welcher der Anmelder zugestimmt hat. Das gilt selbst dann – im Unterschied zu Verfahren z.B. vor dem Deutschen Patent- und Markenamt – wenn die Erteilung auf einem Hilfsantrag beruht, da der Anmelder mit der Zustimmung zur Mitteilung über die beabsichtigte Patenterteilung auf Grundlage eines Hilfsantrags notwendigerweise die höherrangigen Anträge zurückgenommen hat. Die Entscheidung J 01/24 unterscheidet jedoch zwischen „nicht eindeutig unzulässigen“ Beschwerden (vom Anmelder eingereicht) und „eindeutig unzulässigen“ Beschwerden (die beispielsweise von Dritten eingereicht wurden). Aus praktischer Sicht erscheint dies sinnvoll, da eine Beschwerde des Anmelders gegen die Entscheidung über die Erteilung auch nach dem in J 28/03 angewendeten Maßstab grundsätzlich zulässig sein dürfte – auch wenn dies nur in den seltensten Fällen gelten dürfte.
Als Begründung für die derzeitige Praxis des EPA, Beschwerden gegen die Erteilung eines Patents als gültig eingelegt zu behandeln, wird in J 01/24 darauf hingewiesen, dass es widersprüchlich sei, eine Beschwerde auf zwei verschiedene Arten zu betrachten: Damit der Hinweis auf die Erteilung gestrichen werden kann, muss die Beschwerde einerseits nur zulässig sein; andererseits bestimmt der Ausgang der Beschwerde über die aufschiebende Wirkung. Würde dieser widersprüchliche Ansatz verfolgt, wäre die Lage insbesondere für Dritte unsicher und unklar, die nicht wissen können, ob eine Patentanmeldung noch anhängig ist, da dies vom Ausgang des Beschwerdeverfahrens abhängen würde. In J 01/24 wird insoweit auch auf das Erfordernis der Wirksamkeit der Patenterteilung verwiesen (Art. 64 Abs. 1 EPÜ) (Entscheidungsbegründung 10.5).
Es ist sicherlich weiterhin ratsam, Teilanmeldungen vor der Bekanntmachung des Hinweises auf Erteilung einzureichen, um die obigen Probleme zu vermeiden. Die Tür für das Einreichen von Teilanmeldung durch eine Beschwerde gegen den Erteilungsbeschluss wieder zu öffnen, sollte nur eine Notlösung sein, die sich aber als äußerst wertvoll erweisen kann, wenn das rechtzeitige Einreichen der Teilanmeldung übersehen wurde. Vergessliche Anmelder sollten aber darauf hoffen, dass das EPA die derzeitige Praxis beibehält, Beschwerden des Anmelders gegen die Erteilung eines Patents als wirksam eingelegt zu behandeln, was zur Folge hat, dass der Hinweis auf die Erteilung gestrichen wird.